„GEHEIME AGENTIN“
(Roman, BasisDruck Verlag, Berlin 2010
ISBN-978-3-86163-097-5 | 32,80 EUR)
Vorab eine Entschuldigung des Autors: Leider schlichen sich zwei kapitale Fehler ein - auf Seite 1294 des Romans muss es richtig "Warm Springs", Georgia heißen (und nicht "Palm Springs", Kalifornien). Und auf S. 497 gleich noch eine unverzeihliche Verwechslung: Dietrich Bonhoeffer war natürlich der Bruder von Hans v. Dohnanyis Frau! Deshalb muss an der Stelle stehen: "Da kündigte Dohnanyi an, der Bruder seiner Frau, der evangelische Theologe Bonhoeffer, werde ..."
Ich bitte darum, das von Hand im Buch korrigieren zu wollen, und danke dem aufmerksamen Leser Herr v. S. sehr für die freundliche Mitteilung vom Oktober 2014 (ja, der Roman wird vier Jahre nach Erscheinen noch immer gelesen, was natürlich ermutigt).
Der Roman erhielt bei der Verleihung der kulturellen Auszeichnungen der Stadt Zürich am 3. Dezember 2010 in der Sparte Literatur einen Preis.
Laudatio der städtischen Literaturkommission:
„Noch nirgends wurde die Geschichte der Geheimdienste, wie sie im Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der Schweiz aktiv waren, so umfassend aufgearbeitet wie in Peter Kambers Roman „Geheime Agentin“. Der Autor erfindet ein eigenes Subgenre des historischen Romans, das ihm erlaubt, mit wissenschaftlicher Transparenz Fakten nachzuerzählen und mit dichterischer Freiheit Elemente zu erfinden, wo die Quellen schweigen. Die kollektive Biografie, die er dabei anstrebt, gelingt ihm auf eindringliche Weise und lässt uns eintauchen in ein Stück Vergangenheit, wie es hätte sein können. Peter Kamber erhält für seinen Roman „Geheime Agentin“ eine Anerkennungsgabe von 10'000 Franken.
Kulturradio von rbb – „Kulturtermin Literatur“
Samstag, 9. Oktober 2010
GESPRÄCH VON SALLI SALLMANN MIT PETER KAMBER:
zum Nachlesen hier anklicken
BUCHBESPRECHUNGEN
- „NZZ“ (Neue Zürcher Zeitung)
- „Basler Zeitung“
- „Tages-Anzeiger“
- „St. Galler Tagblatt“
- „Der Bund“
"rbb Kulturradio"
(Rundfunk Berlin-Brandenburg)
Dienstag, 15. Juli 2010, 08.45
(schriftliche Fassung – Internetseite von
"rbb Kulturradio", mit 5 "K"s als Empfehlung:
das stehe für "großartig")
In Geheime Agentin dreht sich alles um den Spionagestandort Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Sein Hauptthema bezieht das Buch einerseits aus der alliierten Wahrnehmung der nazideutschen Geheimdienste, die über die deutsche Gesandtschaft in Bern und weitere deutsche Dienststellen in der Schweiz tätig waren, und andererseits aus der Darstellung des militäroppositionellen deutschen Widerstands und dem Dilemma dieser deutschen Opposition.
Dieses Dilemma der deutschen militärischen Opposition bestand laut Peter Kamber darin, dass die Anti-Hitler-Verschwörer im deutschen Militärgeheimdienst unter Canaris und im Auslandsspionagedienst der SS zur Tarnung stets auch echte Spionageerfolge gegen die Alliierten erzielen mussten, und das in der Schweiz der Kriegsjahre, obwohl die Verschwörer mit denselben Alliierten doch auch Kontakt suchten, um ihnen Geheiminformationen direkt aus Berlin zu übergeben.
Alle dargestellten handelnden Figuren
sind authentisch und historisch verbürgt. Peter Kamber führt dem Leser die intensiven Verflechtungen von Lügen und Wahrheiten, Gerüchten und Desinformationen vor Augen, die das Wesen der damaligen Schweizer Szene bestimmten. Er lässt uns in die Büchse der Geheimdienst-Pandora schauen, in diesen Krieg hinter dem Krieg, und eine seiner Figuren aus dem Geheimdienstmilieu sagt: "Der Krieg enthüllt Dinge, die wir nie über uns zu wissen wünschten."
Titelfigur ist Elizabeth Wiskemann, Engländerin mit deutschem Vater, für die Briten während des Zweiten Weltkriegs in Bern im Einsatz .Sie lieferte Informationen nach London, die direkt für die sogenannte schwarze Propaganda gegen Nazideutschland eingesetzt wurden.
Die wichtigste historisch verbürgte Figur auf deutscher Seite im Buch ist Hans Bernd Gisevius, hoher Funktionsträger bei der Gestapo, der sich bald zum nationalkonservativen Widerstand um General Oster durchschlug und schon 1938 für ein Attentat auf Hitler warb; weiterhin Rudolf Rössler, in Berlin Theaterkritiker, bevor er emigrierte. Gerade Rössler gilt heute als Meisterspion. Er soll nach dem Krieg gesagt haben: "Einer allein konnte das nicht machen." "Man fragte sich damals immer", so der Autor Peter Kamber, "woher er all die Nachrichten aus Berlin hatte, die er an die Briten und Russen weiterleitete."
Das Romanhafte an der Darstellung dieser Figuren sind die einzelnen Dialoge und Interaktionen, die der Autor jedoch sehr bewusst nahe an den von ihm studierten Quellen platziert hat. Übrigens hat Peter Kamber über 13 Jahre für diese umfassende Spionage-Darstellung recherchiert.
Das Buch unternimmt auch den Versuch
einer Gesamtdarstellung der Lage der Schweiz im 2. Weltkrieg. Die Schweiz war, wie Kamber zeigt, auf vielfältige Weise auf Kompromisse und auf "Deals" mit dem Dritten Reich angewiesen. Kamber zeigt auch die Einflüsse der Nazi-Ideologie auf die Schweizer Gesellschaft, und er benennt Schweizer Wankelmütigkeiten gegenüber den nazi-deutschen Geheimdiensten. Er ist in diesem Buch allerdings damit so genau, dass der Romancier öfters das Opfer des Historikers wird, denn nicht selten verschwinden die drei Haupt - und zwanzig Neben-Akteure in der Flut der Tatsachendarstellungen. Aber erstaunlicherweise tut das der Lesbarkeit des Buches keinen Abbruch.
Salli Sallmann, kulturradio
"EULENSPIEGEL. DAS SATIREMAGAZIN"
Nr. 20, 20. Mai 2010, S. 70-71
Aber ist der Zweite Weltkrieg nicht eine Domäne der in dieser Hinsicht unermüdlichen Deutschen und Angelsachsen? "Ich weiß nicht", meint Kamber. "Irgendwann habe ich begriffen, dass ich mit Jahrgang 53 zur direkten Nachkriegsgeneration gehöre. Egal, woher ich komme. Schon als Primarschüler habe ich über einen österreichischen Zimmerherrn meiner Solothurner Großmutter ein Buch in die Hand bekommen: 'Der gelbe Stern', das in Bildern vom Mord an den Juden erzählte." Gerhard Schoenberners Buch erschien von 1960 an in vielen Auflagen. "Ich wundere mich, dass es heißt, die Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung habe mit dem Holocaust-Film begonnen. Für mich gehörte dieser Krieg immer zur Gegenwart."
Und die Schweiz war, wie Kamber zeigt, auf vielfältige Weise dabei. Gerade im Bereich der Geheimdienste hatte das Land, das nie nur Bankenzentrum war, Drehscheibenfunktion, war Tummelplatz für allerhand Leute mit undurchschaubaren Absichten. Hier wurden die Informationen über die deutschen Angriffe verteilt. Hier tagten Rote Kapellen. Das klingt nach Legende. Doch Kamber ist promovierter Historiker, kein Märchenerzähler.
Seine "Hauptspione" sind historische Gestalten: Elizabeth Wiskemann, Engländerin mit deutschem Vater, für die Briten während des Zweiten Weltkriegs in Bern; Mary Bancroft, Amerikanerin; Hans Bernd Gisevius, eine zwielichtige Gestalt, anfangs sogar bei der Gestapo, schlug er sich bald zum nationalkonservativen Widerstand um General Oster, der schon 1938 für ein Attentat auf Hitler warb; Rudolf Rössler, ein Bayer, in Berlin Theaterkritiker, bevor er an den Vierwaldstättersee emigrierte, dort den Verlag Vita Nova betrieb und Beziehungen in verschiedenste Richtungen pflegte.
Gerade Rössler gilt heute als Meisterspion. Er selber, der 1958 verstarb, soll nach dem Krieg gesagt haben: "Einer allein konnte das nicht machen." "Man fragte sich immer", so Kamber, "woher er all die Nachrichten aus Berlin hatte, die er an die Briten und Russen weiterleitete. Nach allem, was ich herausgefunden habe, muss es Gisevius gewesen sein, den Rössler erwiesenermassen 1939 getroffen hat, den Widerstandskreise mit dem Ziel der Kontaktaufnahme zu Alliierten in die Schweiz schickten."
Ziemlich am Anfang stellt Kamber das historische Luzerner Treffen zwischen Gisevius und Rössler dar. Vielleicht etwas zu informationslastig, und man beginnt sich vor einem zu historischen Roman zu fürchten, aber allmählich balanciert Peter Kamber seine literarischen und historischen Interessen geschickt aus, beschert auf die lange Distanz ein eindrückliches Leseerlebnis, gerade weil der Roman bei genauerer Betrachtung keine Hauptfiguren kennt, sondern eher stark und schwächer leuchtende Sterne, deren Stärke und Position sich innerhalb des Beziehungsnetzes, das Kamber aufbaut, immer wieder verändern.
Ursprünglich habe er beim Schreiben "an Free Jazz gedacht", meint Kamber, an ein Mit- und Ineinander von Figuren und Motiven. Man kann dem zustimmen. Die Chronologie gibt die Leitlinie, doch wenn etwa Jakob Schaffner auftaucht, jener Schweizer Schriftsteller, der zum offenen Anhänger von NS-Deutschland wurde, ist er auf den Seiten, die ihn betreffen, genauso Hauptfigur wie später Dr. Ernst Mörgeli, jener Schweizer Spion, der 1942 in Stuttgart durch den Verrat eines Schweizer Nazi-Spitzels gefasst wurde, um nach dem Krieg zum legendär auskunftsarmen EMD-Sprecher zu werden (EMD = Ernst Mörgeli dementiert).
Mit Mörgeli und anderen Zeitzeugen konnte Kamber noch sprechen, was aufregend gewesen sei: "Wenn man die richtigen Fragen findet, kann man die Leute dazu bringen, den Blick wie eine Kamera in die Vergangenheit zu richten. Dann sprechen sie plötzlich zu dir, als ob du auch dabei gewesen wärst." So kommt man mit Kamber ins Warschauer Getto, von dem ihm die Zürcherin Gutta Sternbuch noch erzählen konnte. Aber auch vor Roosevelt und der Reichskanzlei hat Kamber keine Angst. Zwei Grundsätze habe er gehabt: "Die Facts müssen stimmen, und: Erfinden geht nur, wo die Quellen schweigen oder sich widersprechen."
Elizabeth Wiskemann etwa, habe er unabhängig, "ohne Liebe" schildern wollen. Dann habe er Briefe von ihr entdeckt und alles geändert. Dabei stand sie ganz am Anfang. Für sein erstes bekanntes Buch, "Geschichte zweier Leben Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin", das 1990 erschien, hatte Kamber die Verlegerin Emmie Oprecht aufgesucht, die ihm von der schillernden Agentin erzählte. "Emmie Oprecht sagte mir damals: 'Und das nächste Buch, das schreiben sie über diese Frau.'" [Anmerkung P.K.: Missverständnis, es hatte diese Wirkung – die Worte selbst blieben unausgesprochen!]
In einer Rezension, so Kamber, habe es geheißen, dieses Sachbuch sei "beinahe ein Roman". Das schönste Lob, denn in den achtziger Jahren habe er mit Erzählungen begonnen. Aber neben dem Deutschlehrer habe ihn vor allem sein Geschichtslehrer beeinflusst: Mario Erdheim, der heute bekannte Zürcher Ethnopsychoanalytiker, "der schon damals die Grenzen zwischen den Fachbereichen überschritt".
Auch jetzt, sagt Kamber, gehe es ihm nicht um eine säuberliche Bilanz. Ein Roman sei "eher ein Bild", die Bilanz müsse der Leser ziehen. "Eine Erkenntnis ist vielleicht, dass der nationalkonservative Widerstand wirkungsvoller war als gedacht. Nicht über Stauffenberg, aber über Canaris, Oster und Leute wie Gisevius, die Informationen verbreiteten oder bestätigten, da die Briten sie, teils durch polnische Hilfe bei der Entschlüsselung der Enigma-Nachrichten, oft schon hatten."
Aber ist es nicht eigenartig, dass Kamber, der, als ehemaliges Mitglied des Soldatenkomitees, aus dem linken Spektrum der schweizerischen Politlandschaft kommt, jetzt bei einer positiven Wertung des nationalkonservativen Widerstands angelangt ist? "Für mich zählt zuerst, was passiert ist. Aber man muss auch sehen, dass die Nationalkonservativen erheblich zur Inthronisierung Hitlers beigetragen haben. Sie dachten, sie könnten Hitler kontrollieren, indem sie ihn an der Regierung beteiligen, was falsch war."
Kambers Geheimdienstroman ist alles andere als ein James Bond. Der Reiz des Buches besteht gerade darin, dass er diese Welt ohne Romantisierung sieht. Er zeigt, wie Menschen aus "normalen" Zusammenhängen dorthin gerieten, "wo", so Kamber, "das Verhältnis von Wahrheit und Lüge anders bestimmt wird. Alles lebt von Provokation, Lockvögeln und Desinformation. Der ganze Erkenntnis- und Informationsbegriff zerbröselt einem unter den Fingern. Es war aufregend zu sehen, wie Schellenberg, Leiter des deutschen Nachrichtendiensts, herausfindet, wo das Leck im Oberkommando liegt. Zuerst versichert er Schweizern, dass er, weil er das Land möge, gegen einen Angriff auf die Schweiz sei. Das glauben sie. Dann lässt er verbreiten, es werde einen Angriff geben, worauf sich die Schweizer wieder melden, fragen, warum sich die Politik geändert habe. Das war der Anfang vom Ende für wichtige Verschwörer wie General Oster und Dohnanyi."
Kamber liefert unzählige Details, aus denen ein großdimensioniertes Epos entsteht, in dem man sich wie mitten in einem Panorama fühlen kann. "Die Wahrheit liegt im Detail wie im Ganzen. Es gibt viele Bücher über den Krieg, aber wenige, die beides verbinden. Mir gefällt Dos Passos Romantrilogie 'U.S.A.', da sind alle Farben des Krieges drin, doch er spricht zu wenig von den Machthabern."
Aber musste das Buch, das in einer schönen Dünndruckausgabe vorliegt, wirklich diesen Umfang haben? "Ja." Kamber lächelt ein letztes Mal. "Meine Agentin riet mir zu streichen. Aber ich konnte nur sagen, das käme mir vor, wie wenn ein Kind sagt: ‹Das ist aber ein schönes Tier. Das hat ja ein tolles Fell. Aber warum hat das Tier denn so lange Beine und einen so langen Hals?'" Zu einer Giraffe gehört eben alles.
"Neue Zürcher Zeitung" (NZZ)
19. April 2010, Nr, 89, S. 12
Geheimsache
Peter Kambers historischer Roman
Der Zürcher Historiker und Publizist Peter Kamber hat nun in einer immens aufwendigen Recherche die verschiedenen zwischen 1939 und 1945 in der Schweiz zusammenlaufenden Fäden der alliierten wie der nationalsozialistischen Spionage aufgedröselt und die Ergebnisse in einem gewaltigen, 1385 Seiten umfassenden Romanwerk wiedergegeben.
Auf fast 1400 Seiten breitet er die Fakten aus, indem er drei Figuren aus einem unübersichtlichen Kreis von Agenten und Zuträgern porträtiert. Es sind dies die Engländerin Elizabeth Wiskemann, die für den britischen Geheimdienst aus der Schweiz heraus operiert, sodann der aus dem inneren nationalsozialistischen Machtzirkel kommende Vertreter des deutschen Widerstands Hans Bernd Gisevius sowie schließlich Rudolf Roessler, der in Luzern zur Tarnung einen Verlag leitet und verdeckt als Schaltstelle für den Informationsfluss zwischen Berlin, Moskau, Bern und London dient.
Peter Kamber formt den historischen, peinlich genau recherchierten Stoff zum Roman und lässt den Leser an allen Unterredungen der beteiligten Figuren teilhaben: Selbst Hitler hat auf diesen Seiten seinen (natürlich wutschnaubenden) Auftritt. Kamber macht das alles mit großem Geschick, und die atmosphärisch dichten Szenen kippen nur selten mit gestelzten Dialogen etwas in die Schieflage des Kolportagehaften. Das Problem an dem gewichtigen Werk freilich ist ein anderes: Indem der Autor das Ganze einer Epoche zu zeigen versucht, verliert er sich in der Fülle des Stoffes. @font-face { font-family: "Times New Roman"; }p.MsoNormal, li.MsoNormal, div.MsoNormal { margin: 0cm 0cm 0.0001pt; font-size: 12pt; font-family: "Times New Roman"; }table.MsoNormalTable { font-size: 10pt; font-family: "Times New Roman"; }div.Section1 { page: Section1; } [Bemerkung, 9.9.2012: Schon lange wollte ich, wenn das gestattet ist, gesprächsweise dazu Stellung nehmen. Durch die bewusste Wahl einer großen Zahl von Gestalten – und folglich Perspektiven – wollte ich als 1953 geborener Autor jene verwirrliche Gleichzeitigkeit erlebbar machen, die zum Gesamteindruck jedes Krieges und seiner Überlieferung gehört, insbesondere im Fall des Zweiten Weltkrieges. Ohne diese Dimension der Verlorenheit beim Lesegefühl hätte etwas ganz Entscheidendes gefehlt – der Roman musste die Komplexität des Geschehens bis an den Rand des noch Darstellbaren in den Blick nehmen. Dieses Konstruktionsprinzip geht einher mit der Überzeugung, dass der Roman als Genre zu jeder Zeit und in jeder Epoche die Aufgabe hat, die Grenzen des Verstehens und der Verstehbarkeit weiter hinauszuschieben. Die geschichtsphilosophische Grundannahme dabei ist, dass Vergangenes insoweit noch veränderbar ist, als wenigstens die Nachwirkungen, die – und sei es nur in der Form des Schmerzes – über viele Generationen in Gegenwart und Zukunft hinein reichen, bedacht und aufgefangen werden können. Darüber hinaus bemisst sich Schreiben stets daran, was wir "zulassen". Wer sich dabei "verlöre", könnte auch was "finden". Aber das wäre jetzt bereits viel zu sophistisch geantwortet.]
Vielleicht wäre es klüger gewesen, einen engen Fokus zu wählen und beispielsweise lediglich Rudolf Roessler zu porträtieren, der nun tatsächlich eine ebenso schillernde wie interessante Figur des deutschen Widerstands in der Schweiz war. Ausserdem: Ein wenig schreckt man vor dem Gedanken zurück, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der doch etwas gespenstischen Form eines hyperrealistischen Agentenromans zu lesen.
Der rätselhafte Herr H.
Peter Kambers Arbeit an seinem Roman
Christof Wamister
Im Basler Magazin, der Wochenendbeilage der Basler Zeitung vom 24. Oktober 1998, veröffentlichte der Autor und Historiker Peter Kamber eine Recherche über den Landesverräter Jakob Meier: "Wie J. M. das Versteck des Nationalbank-Goldes im Gotthard an die Nazis verriet." Zwei Jahre später meldete sich auf der Redaktion ein Herr Hennig, wohnhaft in einem kleinen Ort bei Belfort. Seine Angaben waren nicht sehr präzise: Er habe in der BaZ etwas über Spionage im Zweiten Weltkrieg gelesen, das mit ihm zu tun habe. Die Redaktion kam zum Schluss, dass es sich um den Beitrag von Kamber handeln müsse und vermittelte den rätselhaften Herrn Hennig an den Autor weiter. Dieser zeigte sich erfreut und dankbar, denn für ihn handelte es sich um eines der vielen Mosaiksteinchen bei seinen Recherchen über die Geheimdienstaktivitäten im Zweiten Weltkrieg, die sich in den letzten zehn Jahren zu einem 1400seitigen Roman gebündelt haben. Nicht inbegriffen in dieser Seitenzahl ist ein tausendseitiger, im Internet publizierter Kommentar.
In diesem Anhang lässt sich auch die Geschichte des Horst Hennig nachlesen, unter dem Stichwort "Spitzelberichte von Jakob Meier". Meier, vor seiner Flucht nach Deutschland Arbeiter in der Munitionsfabrik Altdorf, war ein übles Subjekt. Ein Gestapobeamter bezeichnete ihn als "Schmutzfink", der aber verwendbare Arbeit geleistet habe. Meier war auch schlau. 1946 wurde er an die Schweiz ausgeliefert. Er tischte der Bundespolizei Geschichten über deutsche Atomdokumente auf, brachte sie dazu, ihn in Begleitung von zwei Polizeibeamten ins Tirol zu bringen und verschwand dort auf Nimmerwiedersehen.
Kamber fand im Schweizerischen Bundesarchiv Durchschläge seiner Spitzelberichte aus der Zeit vom Oktober bis Dezember 1941: "Es war mir lange ein Rätsel, wie diese Berichte ins Archiv gekommen waren." Die Lösung des Rätsels brachte Horst Hennig. "Er war einer der vielen Hundert Schweizer, die im Krieg das Panoramaheim in Stuttgart durchlaufen hatten», die Anlaufstelle für Schweizer Nazis und Waffen-SS-Kandidaten. Hennig hatte auf Hitlers Sieg gesetzt und wurde später von der deutschen Abwehr eingesetzt, um Grenzgänger zu finden, die Dokumente und Waren über die deutsch-schweizerische Grenze schmuggelten."
"In Abwesenheit verurteilt, verlor er das Schweizer Bürgerrecht und blieb als Staatenloser im Elsass. Die Geschichte verjährte, und er bereute, was er damals tat. Er war ein Freund von Jakob Meier gewesen. Die Kohlepapier-Durchschläge seiner Spitzel- und Geheimberichte hatte Jakob Meier aufbewahrt und sie gegen Kriegsende – vor seinem Versuch, unterzutauchen – Freund Hennig zum Verstecken gebracht, der damals zurückgezogen in Tiengen im Schwarzwald lebte. Sie kamen nach Kriegsende – vermutlich im Zuge der Fahndung nach dem geflohenen Jakob Meier – bei einer Hausdurchsuchung zum Vorschein. Die Schweizer Bundesanwaltschaft hatte Horst Hennig nämlich nicht vergessen und nach 1945 bei den französischen Militärbehörden eine Hausdurchsuchung bei Hennig verlangt."
Peter Kamber hat Horst Hennig ausführlich befragt und lässt ihn jetzt als kleine Nebenfigur in seinem dokumentarisch untermauerten Roman auftreten. Die Bundespolizei hat das Einreiseverbot gegen Hennig aufgehoben. Ausbürgerungen, wie sie damals erfolgten, wären nach heutigem Recht nicht mehr möglich.
"Tages-Anzeiger", 25. März 2010
Bern, die Stadt der Spione.
Entkommen kann dafür ein anderer Mitverschwörer, der nach dem 20. Juli untertaucht und Anfang 1945 mit gefälschten Gestapo-Ausweispapieren in die Schweiz flüchtet: Hans Bernd Gisevius (1904-1974). Er ist eine der drei Hauptfiguren im breit angelegten Roman des 56-jährigen Schweizer Historikers und Buchautors Peter Kamber. Gisevius war während des Kriegs offiziell im deutschen Generalkonsulat in Zürich als Abwehrbeauftragter tätig; in Tat und Wahrheit versuchte er als Abgesandter der Militäropposition, im "Warteraum Europas und Jagdrevier der Spione aller Nationen" [P.K.: Ausspruch des Dulles-Biografen James Srodes, den ich in einem Artikel für die WochenZeitung, Nr. 6, 11. Februar 2010 anführte und der im Roman nicht vorkommt] Kontakte zu den Alliierten zu knüpfen.
Mit brisanten Informationen versorgte er den ausgebürgerten Deutschen Rudolf Roessler (1897-1958) – die zweite Hauptfigur –, der in Luzern einen Verlag betrieb und über eine kommunistische Gruppe in Genf geheimes Material aus dem innersten Zirkel der Wehrmacht nach Moskau funkte. Gisevius versuchte auch die Journalistin [P.K.: und Zeithistorikerin] Elizabeth Wiskemann (1899-1971) – die Titelfigur – von seiner Mission zu überzeugen. Sie war in der britischen Gesandtschaft als Presseattaché akkreditiert; aktiv war sie allerdings vor allem als Agentin mit "schwarzer Propaganda" gegen Nazi-Deutschland.
Wie lässt sich ein Labyrinth voller Desinformation und Gerüchte formal abbilden, ohne dass der Leser darin die Übersicht verliert und schließlich erschöpft die Buchdeckel vorzeitig zuklappt? "Den Fiktionen der Geheimdienstmächte ist gleichberechtigt nur mit der Gegen-Fiktion des Romans beizukommen", sagt der Autor. Über zehn Jahre hat Peter Kamber an seinem 1400 Seiten umfassenden Opus gearbeitet. Er wertete Akten des Nachrichtendienstes, der Bundesanwaltschaft und der Militärjustiz aus und setzte später seine Arbeit in Berlin fort: eine unbestritten imponierende, von detektivischem Spürsinn und bewundernswerter Ausdauer zeugende Leistung.
Auf einer eigens eingerichteten Website (www.geheimeagentin.de) macht Kamber das umfangreiche Quellenmaterial zugänglich. "Dieser Roman ist der Versuch", notiert er auf der Website, "für drei Hauptfiguren und über dreißig Nebenfiguren für die Jahre 1939 bis 1945 das Projekt einer Kollektivbiografie zu wagen." Der enorme Umfang des Manuskripts ließ die renommierten Verlage zurückschrecken; schließlich hat ein kleiner, auf historische Themen spezialisierter Verlag in Ostberlin das Buch herausgebracht.
Gegen Peter Kambers Methode der "Mikro-Fiktion", nämlich der Freiheit, die Figuren so zu zeigen und sprechen zu lassen, wie sie nach der dokumentarischen Arbeit für den Autor Gestalt annehmen, ist an sich nichts einzwenden. Kamber jedoch will im Geiste der großen Epiker des 19. Jahrhunderts ein detailverliebtes Panorama von größtmöglicher Totalität entwerfen. Dieser Drang, von der Berliner Reichskanzlei bis ins "Deutsche Heim" am Helvetiaplatz [P.K.: in Bern] als auktorialer Erzähler omnispräsent zu sein, fordert seinen Preis. Straffungen in den teilweise ausufernden Dialogen, eine Reduktion des Personals und vor allem eine Konzentration auf Schweizer Schauplätze wären hier eigentlich unerlässlich gewesen.
Die vielfachen Spiegelungen des Geheimkriegs im "heißen" Krieg hätte Kamber auch mit Verdichtungen und Andeutungen erreichen können. Aber der Stolz des Historikers, der viele bislang unerforschte Akten auswertete, siegte leider über die Erzählökonomie des Romanciers.
[Bemerkung des Autors, 5. April .2010: Ich weiß nicht, was der "Stolz des Historikers" ist – "Stolz" ist ein Gefühl, das ich wie den Hochmut eher zu den Lastern zähle und das jeder Mensch in eigenem Interesse analysiert, da es andere Personen und ihre Gefühle ausschließt; ich würde eher von der Verlegenheit des Historikers sprechen, da Geschichtsschreibung stets um Lücken herum erzählen muss und sich schmerzlich bewusst ist, wieviel unaufgeklärt bleibt. "Detailverliebt" zu sein hingegen halte ich zu Unrecht für eine tadelnswerte Eigenschaft, da das Ganze auf dem Kleinsten fußt und die Ordnung des Größeren bereits in sich trägt. Komplexität lässt sich im Kleinen am anschaulichsten darstellen – auf einer Ebene nach der anderen. Natürlich muss ich die Schelte akzeptieren, wenn ich meine "Liebe" nicht an allen Stellen überzeugend weiterzugeben vermochte. Wenn Leserinnen und Leser für Augenblicke im Buch den Überblick verlieren, mögen Sie sich vor Augen halten, wie gut es ihnen geht, dass sie erstens jene Zeit nicht erlebten und zweitens nicht im Geheimdienst arbeiten müssen: in Kriegen und im Innern von geheimen Diensten zählt das nämlich zur dauernden Erfahrung: keinen Überblick zu haben, hoffnungslos überfordert zu sein. Ein realistischer Geheimdienstroman muss in eine Welt hineinführen, in der sich Lesende erst behaupten müssen. Der Roman wird da zum (ernsten) Spiel. "Verstehe ich das? Finde ich mich zurecht? Würde ich untergehen? Das Handtuch werfen?" Den Buchdeckel zuklappen zu dürfen ist das Privileg der Nachgeborenen, die sich sicher sind, solcher Kenntnisse der Komplexitätsanalyse in der Gegenwart nicht zu bedürfen. Aber aufgepasst: Geheimdienste hörten weder nach 1945 noch nach Ende des Kalten Krieges auf, unser Leben mitzubestimmen. Es könnte sein, dass solch ein Lese-"Lehrgang" – eine Initiation in die Wahrnehmung der verwirrenden Welt des Doppelbödigen – doch noch einmal nützlich wird. Wie mir an der Leipziger Buchmesse ein anonymer Herr jedenfalls mitteilte, hat sich die Existenz des Romans in Geheimdienstkreisen offenbar schon herumgesprochen.
Und noch eins – nur weil ich mich als Autor ja vergleichsweise gut kenne und weiß, wie es in mir aussieht: Zur Beruhigung der Leserinnen und Leser kann ich sagen, dass es in mir keinen Kampf zwischen "Historiker" und "Romancier" gibt. Wie die beiden zueinander stehen, beantworte ich gern: der eine repräsentiert eher das Über-Ich, der andere das Ich-Ideal. Bis ein Satz im Roman stehen blieb, mussten beide Instanzen ihr Einverständnis geben. (Und dann freuen sich "beide".) Das Wort "siegt" klingt drastisch, aber es gab Fälle, wo nachträglich aufgefundene Fakten selbstverständlich dazu führten, dass ich Passagen umschrieb. Da hat der Rezensent also Recht. Ich wollte keinen kontrafaktischen Roman schreiben (das ist ein anderes Genre). Wenn ich als junger Mann Geschichte studierte, so lag das im Übrigen zweifellos an der Wirkung, die mein damaliger Geschichtslehrer, der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim in Zürich, bei mir hinterließ, denn er brachte uns 17- und 18-Jährigen 1970-72 neben Quellenkritik und analytischem Denken schon die Frankurter Schule und Michel Foucault nahe. Aber damals las ich eben auch mit Leidenschaft Dostojewski, Tolstoi und Beckett – "Murphy" war mein Lieblingsroman. In den 1980er-Jahren begann ich mit Kurzgeschichten und einem Theaterstück, ehe ein Zufall mich dazu brachte, die Biografie "Geschichte zweier Leben" zu schreiben, d.h. mit einem Non-Fiction-Buch zu debütieren. Ein danach begonnener Roman ist noch unvollendet, ein weiterer nur zur Hälfte fertig, und über lange Jahre füllten sich nur kleinformatige Tagebücher. Es war eine Zeit, wo ich noch nicht wusste, wie die Darstellungsprobleme, die sich mir stellten, zu lösen wären. Das änderte sich erst, als ich mit diesem Roman hier begann.]
Im Netz der Geheimdienste.
Von Peter Surber
Kambers Herkules-Anstrengung rechtfertigt sich mit der Brisanz des Stoffes: der Rolle der Schweiz als Spionagedrehscheibe in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. "Alliierte und deutsche Geheimdienste, aber auch die verschiedenen deutschen Dienste untereinander lieferten sich auf Schweizer Boden einen folgenschweren Parallelkrieg", schreibt Kamber. Und: "Der Nachrichtendienst der Schweizer Armee und die Schweizerische Bundesanwaltschaft mit ihrem polizeilichen Arm, der Bundespolizei, ließen sich in ein Räderwerk hineinziehen, dessen Geschichte erst in Teilen geschrieben ist."
Kamber hat in den Vorsatz, diese noch ungeschriebene Geschichte zu schreiben, rund zehn Jahre, 1997 bis 2006, investiert. Einzelne Puzzleteile fanden sich bereits in seiner früheren Publikation "Geschichte zweier Leben", dem faszinierenden Doppelporträt Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin. Im Zentrum des neuen Buchs steht die titelgebende Engländerin Elizabeth Wiskemann, die 1939 bis 1945 als britische Geheimagentin in der Schweiz tätig war. Um sie herum knüpft Kamber ein Netz weiterer Geheimdienstfiguren, darunter der Deutsche Hans Bernd Gisevius, die Amerikanierin Mary Bancroft und der Deutsche Rudolf Roessler. In Luzern, wo Roessler eine Exil-Existenz als Verleger und Geheimdienstler führt, setzt Kamber ein, später kommt London hinzu, weitere Schauplätze im lebensgefährlichen Spiel um Sein und Schein sind Berlin, Stuttgart, Bern, Genf, Zürich, Luzern, Den Haag oder Warschau.
Unbezweifelbar sind Kambers phänomenale Detailkenntnisse. Streitbar bleibt die literarische Methode: Statt eines Sachbuchs wählt Kamber die Form des historischen Romans. Das macht es als Leser schwierig, Fakten und Fiktion zu trennen; dafür gewinnt das Buch Anschaulichkeit und Zeitkolorit (inklusive Liebesaffären, wie sie zu einer ordentlichen Geheimdienstexistenz gehören).
Seine Methode begründet Kamber damit, dass selbst akribische Recherchen das "Spiel des Scheins" nur ansatzweise zu durchleuchten vermögen. "Vielleicht ist den Fiktionen der Geheimdienstmacht gleichberechtigt nur mit der Gegen-Fiktion des Romans beizukommen."
[S. 1: "Peter Kamber. Der Roman "Geheime Agentin" setzt Bern 1939-1945 als Spionagestadt in Szene"]
S. 27:
Bern, die Stadt der Spione.
Mit brisanten Informationen versorgte er den ausgebürgerten Deutschen Rudolf Roessler (1897–1958) – die zweite Hauptfigur –, der in Luzern einen Verlag betrieb und über eine kommunistische Gruppe in Genf geheimes Material aus dem innersten Zirkel der Wehrmacht nach Moskau funkte – ehe ein "Romeo"-Spitzel auftauchte.
Gisevius versuchte auch Elisabeth Wiskemann (1899–1971) – die Titelfigur – von seiner Mission zu überzeugen. Die Journalistin war in der britischen Gesandtschaft als Presseattaché akkreditiert; aktiv war sie allerdings vor allem als Agentin mit "schwarzer Propaganda" gegen Nazideutschland. Gisevius gegenüber blieb sie wegen des "Venlo-Zwischenfalls" skeptisch. Am 9. November 1939 hatte ein Kommando unter SD-Auslandsdienstchef Walter Schellenberg im holländischen Grenzort Venlo zwei britische Agenten entführt, die glaubten, mit vermeintlichen Hitler-Gegnern in Kontakt zu stehen. Seither standen für alliierte Geheimdienste hitlerfeindliche Signale unter dem Verdacht, eine Finte der SS zu sein.
Diese komplexe Welt der Geheimdienste, in der Lüge, Täuschung und Verstellung zum Grundhandwerk gehören – diese Welt der Spione hatte in Bern eine der wichtigsten Bühnen während des Krieges. Der Thunplatz, in dessen Nähe die meisten Botschaften ihren Sitz hatten, die Herrengasse 23, wo ab Ende 1942 Allan Dulles als "Sonderbeauftragter" den amerikanischen Geheimdienst und CIA-Vorläufer OSS reorganisierte, und dem Hotel Bellevue, wo die Kontrahenten lauernd Tisch an Tisch sassen: Diese drei Eckpunkte bildeten ein magisches Geheimdienstdreieck.
Der "Kleine Bund" veröffentlichte bereits 2003 zwei Serien von Peter Kamber mit Episoden und Figuren, die einem nun auch im Roman begegnen. So zum Beispiel der Geheimdienstmann Ernst Mörgeli – offiziell Sekretär des Konsuls in Stuttgart, später langjähriger Sprecher des Militärdepartements –, der 1942 von der Gestapo verhaftet und Monate später nach deutsch-schweizerischen Geheimverhandlungen freigelassen wurde. Oder die Geschichte der Jagd von Allan Dulles auf die Tagebücher von Graf Ciano, des italienischen Aussenministers und Schwiegersohns von Mussolini.
Mit den ersten Recherchen und Vorarbeiten für das gewichtige, 1400 Seiten umfassende Opus hat Peter Kamber, der 1993 das Buch "Schüsse auf die Befreier" über die Haltung der Schweiz gegenüber den Alliierten im Zweiten Weltkrieg publiziert hatte, bereits im Spätsommer 1997 begonnen. Er wertete in der Folge Akten des Nachrichtendienstes, der Bundesanwaltschaft und der Militärjustiz aus und setzte später seine Archivarbeit in Berlin fort: eine unbestritten imponierende, von detektivischem Spürsinn und bewundernswerter Ausdauer zeugende Leistung. Auf einer eigens eingerichteten Website (www.geheimeagentin.de) macht Kamber das umfangreiche Quellenmaterial und Hintergrundinformationen zugänglich. "Dieser Roman ist der Versuch", notiert er auf der Website, "für drei Hauptfiguren und über dreissig Nebenfiguren für die Jahre 1939–1945 das Projekt einer Kollektivbiografie zu wagen."
Das Sachbuch verwirft Peter Kamber wegen der "Komplexität der Lebenszusammenhänge". Der Roman könne zumindest den Versuch wagen, ein "Zeitbild" zu entwerfen. Ein beträchtliches Wagnis stellt dieser ausufernde Roman mit kaum mehr überblickbarem Personal und Dutzenden von ineinander verschachtelten, parallelen Handlungssträngen ohne Zweifel dar. Der riesige Umfang des Manuskripts ließ renommierte Verlage aus verständlichen Gründen zurückschrecken; schließlich hat ein kleiner, auf historische Themen spezialisierter Verlag in Ostberlin das Buch jetzt herausgebracht.
Gegen Peter Kambers Methode der "Micro-Fiktion", nämlich der Freiheit, die Figuren so zu zeigen und sprechen zu lassen, wie sie nach der dokumentarischen Arbeit für den Autor Gestalt annehmen, ist an sich nichts einzuwenden. Kamber jedoch erteilt jeder Beschränkung eine Absage und will im Geiste der großen realistischen Epiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein detailverliebtes Panorama von größtmöglicher Totalität entwerfen. So treten Churchill und die ganze NS-Führungsriege von Hitler über Goebbels, Himmler und Heydrich bis zu mittleren Chargen immer wieder als romaneske Figuren auf. So nimmt – um ein Beispiel zu nennen – der Weg von Reichspressechef Otto Dietrich vom ergebenen Gefolgsmann Hitlers bis zum (späten) Befehlsverweigerer unverständlich viel Raum ein. Das Attentat vom 20. Juli wird wiederum in aller Ausführlichkeit rekapituliert, als ob die Chronologie des gescheiterten Putschversuchs so noch nie zu lesen gewesen wäre.
[Anmerkung des Autors, 20.2.2010: Weltkrieg als Roman – die Form folgt der Funktion, würde ich gerne antworten. Ziel war es, die üblichen Grenzen der Nationalliteratur zu sprengen und auch das Unmögliche zu versuchen: die Überkomplexität – das Hauptmerkmal jedes Kriege – formal wiederzugeben, eben mit dem Verzicht auf die künstliche Reduktion der Handlungsebenen. Anders als die Figuren der Geschichte, denen die Zeit stets davonlief, können Leserinnen und Leser zwischendurch innehalten und sich dem Realismus der Darstellung so dosiert aussetzen, wie es zuträglich scheint. Krieg bedeutet Tod – und Verwirrung für die Überlebenden. Die Leseerfahrung muss in der Gesamtwirkung verstörend bleiben, bei aller vom Autor angestrebten Pointiertheit der Szenen und der dramatischen Linienführung.]